IN UTRAMQUE PARTEM

Martin van Gelderen's Intellectual History Blog

religiöse toleranz & politische streitkultur, 1650-1700


Die Spaltung des Christentums, die seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts die Europäische Geschichte prägte und zu den Religionskriegen in (unter anderem) Frankreich, den Niederlanden und England führte, rief eine lange und existentielle Debatte über religiöse Verfolgung und Toleranz hervor. Sollten Fürsten, Obrigkeiten und Stadtrepubliken Ketzer:innen, die mit der katholischen Kirche brachen und sich in neuen Gemeinden und Kirchenverbände organisierten, aktiv verfolgen? War religiöse Einheit eine Grundbedingung für politische Eintracht? Oder war es politisch möglich, und vielleicht sogar notwendig, miteinander in religiöser Vielfalt zusammen zu leben? Machte Verfolgung eigentlich Sinn? War es überhaupt machbar, das Gewissen von Ketzer:innen mit Gewalt zu zwingen? War Gewissenszwang in Glaubensfragen zudem wünschenswert? Oder sollte man lieber respektvoll miteinander reden und streiten?

Zwischen 1650 und 1700 erreichte die Debatte über religiöse Toleranz in England, Frankreich und der niederländischen Republik ihren Höhepunkt. Die Verfolgungspolitik des französischen Königs Louis XIV und die englischen Bürger- und Religionskriege führten zu Flüchtlingswellen. Französische Calvinisten und englische Oppositionelle fanden Unterschlupf in der relativen Freiheit niederländischer Städte wie Amsterdam und Rotterdam. Der französische Vordenker Pierre Bayle (1647-1706) floh nach Rotterdam und lernte dort den Quaker Benjamin Furly (1636-1714) kennen. Furly war ebenfalls befreundet mit dem englischen Oppositionspolitiker und Philosophen John Locke (1632-1704), der in den Wirren der 1680er Jahre ebenfalls nach Holland fliehen musste. In Holland wurden gerade die radikalen Schriften von Baruch Spinoza (1632-1677) intensiv diskutiert.


Spinoza warb für ‚die Freiheit zu philosophieren‘ und prägte mit seiner Philosophie die Radikalaufklärung. Locke legte die Grundlagen für den modernen Liberalismus, Bayle öffnete die Tür für die Akzeptanz des Atheismus. Im Seminar lesen wir die Hauptschriften von Spinoza, Bayle und Locke, erörtern ihre historische Bedeutung und fragen nach deren Relevanz für unsere eigene, gegenwärtige Auseinandersetzungen mit Polarisierung, Streitkultur, hate speech – und Toleranz.